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Land des Südens

Aktualisiert: 23. Sept.

Von Erica Brogna



Biel/Bienne, 25. August 2024


Liebe C.


Inzwischen bist du elf Jahre alt. Du bist gross, sprichst drei Sprachen und deine Klassenkameraden kommen von überall her. Als deine Eltern dich in die Schule schickten, verstandest du kein einziges schweizerdeutsches Wort. Sie sind dann nicht mehr zurückkehrt, in ihr Dorf. Sie haben Arbeit gefunden in der Fabrik. Dir mangelt es an nichts. Oder doch?

Ein Teil deiner Familie hat sich hier in der Schweiz eingerichtet. Ihr besucht die «Missione Cattolica», um euch nicht allein zu fühlen. Du gehst auch in die Kurse für italienische Sprache und Kultur, schliesslich kann man nie wissen, ob ihr vielleicht eines Tages doch nach Hause zurückkehren werdet. Deine Eltern leben in der Angst, du könntest deine Sprache und deine Wurzeln vergessen. «Du würdest vergessen, wer du bist», sagen sie.


Sobald die Schule im Juli endet, steht das Auto bereits gepackt und startklar bereit. Die Reise ist lang und die letzte halbe Stunde ist die schlimmste. Dein Magen lehnt sich gegen die Kurven auf, die zum Dorf führen. Sobald dein Vater das Auto auf der Piazza parkt, ist alles verflogen. Die Grosseltern erwarten dich mit offenen Armen, derart offen, dass sie zusammen mit deinem kleinen Wesen die ganze Sehnsucht für die lange Dauer des vergangenen Jahres umarmen können.


Zuhause; der Geruch von Nonnas Schürze, der Reiskroketten und Kakao-Kekse, die sie soeben für dich gebacken hat. Zuhause; der Duft des Moos’, das auf den alten Dorfmauern wächst. Zuhause; die Nachbarin der Grosseltern, immer älter und mit mehr Zahnlücken, streckt von ihrem Holzstuhl aus die Hand nach dir aus, zieht dich kräftig an sich und drückt dir einen Kuss auf die Wange. «Wie schön du geworden bist! Wie sehr du gewachsen bist!»


Und du lebst das Dorf. Du lebst, weil die anderen Kinder dich zum Spielen abholen, auch wenn sie dich nicht kennen. «Es ist wirklich einfach, hier Freundschaften zu knüpfen», denkst du. Ihre Bewegungen, ihre Worte, ihre Spiele – als wären es deine.

Du lebst, weil die Cousine deiner Mutter dir für das Marienfest die Festtracht nähen liess: eine weisse Tunika mit schwarzem Schulterumhang und goldenen Fransen. Und du gehst an die Prozession mit den anderen Kindern, auch sie als Ordensbrüder verkleidet. Am Ende ist es nur ein Spaziergang durch die Gassen des Dorfs, mit Musikkappelle, vielen Menschen und der Marienstatue, die, im Arm das Jesuskind, von den treusten Mitgliedern der Gemeinde getragen wird. Aber du fühlst dich teil einer wichtigen Sache, auch wenn du nicht weisst, was sie ist.

Du lebst, weil nach dem Abendessen der Cousin der Mutter mit der Gitarre kommt und man sich auf das Plätzchen setzt, auf die Stufen der Kirche vor die Portale, um zu singen.


Die Steinmauern sind gepflastert mit Todesanzeigen. Sie gehören zum Dorf, wie die Bar Figliuzzi und das Schuhgeschäft von Mastro Peppino zum Dorf gehören. Hast du gewusst, dass die Enkelkinder von Mastro Peppino inzwischen alle nach Amerika ausgewandert sind und dass, wenn er sterben wird, niemand in seine Rolle schlüpfen wird? Wie auch die Kinder des Baribesitzers weggehen werden, um in Deutschland Arbeit zu suchen. Die Mauern werden sich der Nachrufe entledigen. Es wird niemand zum Sterben übrig bleiben.


Weisst du, du hast Glück. Deine Eltern haben dir, mit ihrer Entscheidung, in der Schweiz zu bleiben, eine Zukunft voller Möglichkeiten geschenkt. Sie haben dich zum Skifahren begleitet und du liebst die verschneiten Berge. Liebst die grünen Sommerwiesen und deine kleine Stadt voller Leben. Und dieses Land, das dich adoptiert hat, wird dir eines Tages ein Stück Zuhause werden.


Du wirst jedes Jahr ins Dorf zurückkehren und die Veränderungen, langsam und unaufhaltsam, werden dir nicht auffallen. Du wirst die immer leerer werdenden Häuser nicht bemerken, die bröckelnden Mauern, die sich schliessenden Storen. Du wirst viel zu beschäftigt sein, das Leben zu entdecken. Es ist das Schöne der unbeschwerten Jugendjahre.


Eines Tages wirst du deine Kinder mit ins Dorf nehmen. Du wirst sie an der Hand halten, während ihr durch die verstaubten Winkel gehen werdet und, vor den heruntergelassenen Storen und den Schildern an den zum Verkauf stehenden Häusern, wirst du ihnen von der Bar Figliuzzi und von Mastro Peppino erzählen. Du wirst dir die Frage nicht verkneifen können, was wohl gewesen wäre, wenn deine Eltern dort geblieben wären, wenn sie das Dorf nicht verlassen hätten. Wenn sie geblieben wären, um zu kämpfen. Weisst du, dass deine Eltern, wie viele andere, gegangen sind, um ein besseres Leben zu haben? Weisst du, dass sie auch wegen dir nicht mehr zurückgegangen sind? Du wirst dich fragen, ob dieses Land des Südens, so hart und gleichzeitig so voller Leben, aus dir einen anderen Menschen geformt hätte.


An jenem Tag vor sieben Jahren, als du mit deinen grossen Augen mir sagtest, dein wahres Zuhause sei in Italien, habe ich dir, weil ich dich trösten wollte, gesagt, dass Zuhause dort sei, wo deine Mutter und dein Vater sind. Das hielt ich damals für richtig. Ich selbst aber habe noch nicht verstanden, wo Zuhause ist. Und vielleicht werden wir, geboren an einem Ort mit dem Herzen an einem anderen, es nie wissen.


In Verbundenheit

E.

 
 
 

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